Kritik einer Gesellschaftskritik (über Unflat im Netz)

08.06.2014 11:29

 

Lieber homo sapiens!

 

Warum bin ich eigentlich nicht früher auf den folgenden Gedanken gekommen? Weil ich Euer Hirnmodul verwende, wenn ich mich mit Euch auseinandersetze? Oder weil ich dies zu nachlässig tue? Egal: Ich benutze es heute einfach und zwar, um Euch zu zeigen, wie Ihr vermöge Eures höchsteigenen Denkapparates hättet verhindern können, dass ich aus meiner zukünftigen Siegerspezies-Perspektive despektierlich auf Euch herabblicke. Daher habe ich mir die Sprache meines Strohmanns unter Euch geliehen, um Euch eine beliebige Kolumne auseinanderzunehmen, einen eilfertig zusammengewuchteten Text, welcher die Funktion hat, Euch das Denken abzunehmen. Dieser Trick funktioniert noch eine Ebene tiefer: Dadurch, dass Ihr jemand anderem das Denken überlasst, überprüft Ihr auch nicht, ob der andere dies wirklich tut. Aber genau so sollte es sein - damit Ihr dies nun lesen dürft. Smilie.

 

Es grüßt hochachtungsvoll: Euer stets hilfreiches
Bärtierchen

 

 

Wir wüten, wir hassen, wir pöbeln: In Foren, Blogs und Hassvideos fühlen wir uns mächtig.

Sibylle Berg hält dem Leser den  Spiegel  vor. Jeder, der sich halbwegs ehrlich wahrnimmt, erkennt darin die Fratze seiner Eitelkeit - und schämt sich, zumindest ein bisschen. Damit scheint's der Bestandsaufnahme bereits genug, und "wir" (nehmen wir an, es gebe ein ausreichend homogenes Kollektiv namens "wir", über das sich diskutieren ließe) folgen Frau Bergs Sorge um unser Fortergehen:

 

Doch wie wird die millionenfache Häme im Netz sich langfristig auf unsere Gesellschaft auswirken?

Puh, wir können durchatmen: Frau Berg möchte uns gar nicht tadeln, es geht ihr lediglich um unser aller Wohlergehen! Dazu gewährt sie sogar Einblick in ihr eigenes Seelenleben:

 

Manchmal sehe ich mich von oben. Das Licht, der Tunnel, Sie wissen schon. Ich sehe mich in einem Heer von Missgelaunten.

Der besagte Tunnel ist bis auf das Licht an seinem Ende vollkommen dunkel. Dennoch kann Frau Berg sich selbst darin erblicken. Im Rest des gemeinhin eher als eng empfundenen Dunkeltunnels macht sie gar ein ganzes Heer anderer Menschen aus. Denen sie obendrein deren Laune ansieht. Respekt!

 

Wir sitzen und quaken wie Frösche den Mond an. Wir quengeln und hassen, wir erregen uns, wir stellen Strafanzeigen gegen alle und jeden. Und danach ist der Anfall wieder vorüber, und wir wenden uns erleichtert dem Leben zu. Das in den meisten Fällen ein wenig enttäuschend, aber auch nicht besonders furchtbar verläuft.
Angesichts der versprochenen Mondansicht vergessen wir die Sache mit dem (eigentlich geschlossenen Tunnel) lieber. Wir quasseln also, kritisieren, wissen alles neunmal besser, sind dabei über Rechtschreibung, Grammatik und Logik erhaben, täuschen uns über unser an guten wie weniger guten Tagen i.d.R. bescheidenes Leben hinweg, indem wir ihm in Internetforen entfliehen, wo wir dann geistig abkoten können. Was bestimmt jeder nachvollziehen kann, muss ja wohl die Ursache in unserer kollektiven Biographie haben:

Irgendwann in der Jugend hatte man sich halt etwas vorgestellt, das mit Weltherrschaft, Ruhm, Unsterblichkeit zu tun hatte. Etwas Großartiges. Und dann sitzt man da, das Kind schreit, und alles wiederholt sich. Das Essen, die Jahreszeiten. Prost. Die Männer/Frauen, über die wir uns kurz erregen, werden wieder zu Thorsten und Beate im richtigen Leben. Die Politiker gibt es nicht in unserer Wohnung, im Garten, und Russland ist weit weg beim Wochenendausflug in den Zoo. Die Millionen scheinbarer Superhasser, Anzeigensteller, Kontrolleure und Blockwarte sind wir. Sind Thorsten und Beate, bin ich. Ich lese etwas, sehe etwas im Fernsehen, vielleicht bemerke ich im Vorrübergehen Details, die nicht meinem exzellenten Gefühl für Ästhetik und Vernunft entsprechen.

Dass persönlicher Frust die Ursache unseres Verbalmülls im Netz sei, wird durch Wiederholung und die Nennung von Beispielen und Namen belegt. Dazu kommt Eitelkeit, und ansich richtige Argumente werden mit der Nazikeule noch überzeugender: Schmierfinken in Online-Foren betätigen sich als "Blockwarte". Indem sie ihre Nachbarn des real life denunzieren; oder sind die virtuellen Nachbarn gemeint? Doch wie soll dies dem Politikerhass dienen? Aber es folgt gleich die nächste Behauptung:


Und dann kommt der Moment der Langeweile, denn Erregung in Zeiten intensiver Beschäftigung zu entwickeln, ist unmöglich.

Wir nehmen an, dass "dann" die Zeit nach der Erregung bezeichnet. Diese innere Aufruhr ist erstaunlicherweise die Kausa von Langeweile. Weil die Erregung bereits lange angehalten hat? Noch mehr erstaunt, dass die Intensität dem Furor entgegenstehen soll; dabei benötigt Aufregung die Konzentration von Anstrengung. Da verwundert es kaum noch, was dies mit Frau Berg macht:

 

Ich bekomme eine Wut.

Und worauf richtet sich diese? Auf die Wut anderer? Oder solidarisiert sich Frau Berg zwecks Glaubwürdigkeit, Authentizität u.ä. mit dem von ihr kritisierten Wir-Kollektiv? Statt Aufklärung folgt der Verweis auf den Ärger eines anderen Autors:

 

Erregt euch" heißt das Buch eines wütenden Mannes, "erregen wir uns" ist das Motto des Jahres. Früher standen Wütende auf der Straße oder lernten Kampfsportarten, um Aggressionen abzubauen. Heute kommentiert man, schreibt Blogs oder macht Hassvideos, erstattet Anzeigen, sucht eine Mehrheit und fühlt sich mächtig. Wir regen uns auf, weil alles zu schnell geworden ist und wir die Zeit nicht ändern können.

Dass wir die Zeit nicht verändern können, stimmt fraglos. Aber warum sollten wir das wollen? Mit "Zeit" meint Frau Berg jedoch den (bekanntlich vom Schicksal gesandten) Zeitgeist und mit  "Mehrheit" vermutlich die Zustimmung von vielen. Denn es erhebt sich viel besser über z.B. Medienberichte, wenn man sich als Teil einer rechthabenden Minderheit, also einer Art Elite, wähnt. Aber gegen was alles wüten wir?


Wir wüten wegen Bauwerken und Kunst, die uns nicht gefällt. Wir hassen Unbekannte, die wir unsympathisch finden, doppelwählende Chefredakteure, Dirk Nowitzki, der Wurst isst, die Hautfarbe einer Modelkandidatin. Man pöbelt, wettert, hetzt, das dient der Psycho-Hygiene, das ist gut. Man zwingt die Firmen zu Reaktionen und Bundespräsidenten zum Rücktritt. Und hat die Sache sofort wieder vergessen, die Wut ist weg.

Frau Berg hat recht: Die Objekte unseres Missfallens sind oft austauschbar. Wobei kritikbedürftige und lediglich bedauernswerte Figuren der Öffentlichkeit gerne krude vermengt werden. Hier hätte Frau Berg Gelegenheit gehabt, ihr Argument dahingehend zu erweitern, dass heute das Bewerfen mit Schlagphrasen den echten Diskurs, das Alibithema die Politik ersetzt. Georg Seßleen hat dies so ähnlich bereits viel weiter gedacht. Doch zurück in Frau Bergs Leben:


In schlaflosen Minuten frage ich mich, wie die millionenfache Öffentlichkeit, die jeder heute durch das Netz hat, sich längerfristig auf die Entwicklung freier Persönlichkeiten auswirken wird.

Wir dürfen zunächst kurz mit ihr und ihrer (vom Unrat im Netz verursachter?) Insomnie mitfühlen. Doch wer sollen die Millionen Rezipienten sein? Bzw.: wenn Millionen lesen, was einer schreibt, wer wären dann die Millionen Schreibenden, ohne die die vorliegende Kolumne gar kein Fundament hätte? Doch folgen wir Frau Bergs Sorge um unsere geistige Autonomie, die überrascht; denn die vielen Regungen im Netz muten erstmal als, wenn auch meist verunglückte, Versuche einer Autonomie an:

 

Denken Künstler die Rezeption des Wütenden bereits mit? Hat jeder Angst vor der Überwachung, der Anzeige, den Kommentaren, und wie wird unsere Welt aussehen, wenn alles, was einer tut, durch seine Angst vor einer negativen Bewertung und Hassattacken geschieht? Misstraut man der neuen Liebe, denn sie könnte alle Briefe veröffentlichen?

Ein furiose Folge rhetorischer Fragen hagelt auf uns ein. Für die Rezeption von uns Wuttippern sind aus Frau Berg hoffentlich bekannten Gründen auf einmal Künstler notwendig (ist sie folglich sebst eine Künstlerin?). Jedenfalls könnte das allgemeine Auf-einander-Einwüten folgende Folgen haben:

 

Hungert man sich auf akzeptierte Normformen herunter, aus Sorge, hämisch kommentiert zu werden? Verbessert sich die Welt, wenn jeder versucht, es allen recht zu machen? Mäßigen wir uns, kontrollieren und bremsen uns, und ist das vielleicht gut für die Welt? Die sich so selber reguliert und die Kanten abschleift? Oder wird alles, was wir tun, was die Generation nach uns tut, in der ständigen Angst vor dem Hass des Schlechtgelaunten zu einem konturlosen Brei aus Feigheit verkommen?

Abgesehen von der schiefen Metapher des Hungerns, diese fünf Fragen lassen sich im wesentlichen zusammenfassen zu der einen: Wird es durch eine irgendwie zu entstehende Einsicht dazu kommen, dass wir trotz Internet praktisch nicht mehr öffentlich kommunizieren werden? Eine Einsicht, die uns einen profilierten Diskurs erlaubte, schließt Frau Berg aus in ihr verborgenen Gründen aus. Auf im ökonomischen System angelegte Ursachen der auch im richtigen Leben um sich greifenden Rabiatheit kommt sie nicht einmal. Apropos: welcher lausige Mensch hat Frau Berg eigentlich gegen die Leber gestoßen, bzw. welche Laune verbirgt sich hinter ihren im Freistilmodus heruntergetippten Zeilen?


Im Moment geht es mir gut, das Essen war hervorragend, das Wetter ist angenehm. Kein Grund für schlechte Laune, Glück gehabt.

Puh. Aber warum hatte Frau Berg dann im Sinne ihrer Argumentation Grund zum klagen? Und was hätte uns im Falle unguten Essens in Frau Berg gedräut? Eine noch wirrere Kolumne? Noch schlimmer wütende Kritiker Frau Bergs? Diese hätte sie, da wollen wir mal optimistisch sein, mit sprachlicher und gedanklicher Präzision sanfter gestimmt haben können. Doch falls Kritiker und Kritisierte einander ähnlicher sind, als beide Seiten es zugeben, haut Sybille Bergs "wir" schlussendich doch hin. Das mag dann jedoch beide rechthaberischen Seiten des Wirs wütend machen. Und das Gemengelage von Schwachsinn und Gegenschwachsinn zum perpetuum mobile fortschreiben.